
Normalerweise bin ich zu den gewöhnlichen Nine-to-Five-Zeiten im Büro. Aber heute mach ich mich nach dem Abendessen auf den Weg zur Arbeit. Um 21 Uhr bin ich im Swissgrid Gebäude, allerdings nicht an meinem gewöhnlichen Arbeitsplatz: Heute bin ich in der Netzleitstelle.
In der Netzleitstelle wacht ein Team rund um die Uhr über das Höchstspannungsnetz – eine der kritischsten Infrastrukturen der Schweiz – denn ohne Strom geht fast gar nichts. Drei Rollen sind in der Nachtschicht besetzt: System Management, Balancing & Scheduling sowie Regional Operations. Für die nächsten vier Stunden bin ich live mit dabei, während meine drei Swissgrid Kollegen das Übertragungsnetz der Schweiz steuern.
Du schläfst – sie überwachen das Netz
Die Spezialistinnen und Spezialisten von System Management überblicken das grosse Ganze – und zwar 24/7. Sie geben beispielsweise Anordnungen für Redispatch-Massnahmen – also das gezielte Eingreifen in das Stromsystem, wenn irgendwo im Höchstspannungsnetz eine Überlast droht. Früher war der Gebrauch von solchen Massnahmen eine Seltenheit: «Vor 20 Jahren brauchten wir etwa einmal im Jahr Redispatch», erzählt mir Thomas Marti, Specialist System Operations. Heute geschieht dies mehrmals täglich. Der Grund dafür ist vor allem die zunehmende schwankende Produktion aus erneuerbaren Energiequellen wie Sonne und Wind. Umso mehr braucht es die Specialists System Operations, die das Netz rund um die Uhr überwachen und sicherstellen, dass der Strom fliesst.
Und er floss zuverlässig, jedenfalls während jener Nachtschicht, die ich begleiten dufte. Die grossen Ereignisse im Stromsystem, die ein Eingreifen des Teams in der Netzleitstelle erfordert hätten, blieben aus. Das Worst-Case-Szenario, eine kritische Netzsituation, hat auch Thomas in seiner langen Swissgrid Karriere noch nie erlebt. Das wäre jene Situation, bei der alle Massnahmen im In- und Ausland ausgeschöpft sind. In diesem Extremfall dürfte Swissgrid direkt in den Kraftwerkspark eingreifen.
Vor 20 Jahren brauchten wir etwa einmal im Jahr Redispatch. Heute? Mehrmals täglich.
Thomas Marti, Specialist System Operations
Balancing & Scheduling – das Gleichgewicht halten
Die Aufgabe in diesem Bereich der Netzleitstelle: Das Gleichgewicht zwischen Stromproduktion und Stromverbrauch halten – und zwar im Sekundentakt. Schwankt dieses Gleichgewicht, müssen es die Fachleute in der Leitstelle ausgleichen. Zum Beispiel, indem sie Energie «dazuholen» oder Energie «abgeben». Dafür gibt es Plattformen wie Picasso, welche dabei helfen, schnell Angebote zu vergleichen und sich für das wirtschaftlichste zu entscheiden. Gabriel, er ist während dieser Nachtschicht für das Balancing (also für das Gleichgewicht im Netz) zuständig, hat mir die Plattform versucht zu erklären. Leider mit mässigem Erfolg. Trotz seiner ausführlichen und nachvollziehbaren Erklärungen habe ich nur einen Bruchteil dessen verstanden, was auf dem Bildschirm zu sehen war.
Das zeigt, wie komplex der europäische Stromhandel ist und warum das Stromabkommen für die Schweiz so wichtig ist: Nur mit dem Stromabkommen ist Swissgrid auf allen drei europäischen Plattformen für Regelenergie mit dabei. Was gewisse Abläufe vereinfachen oder automatisieren würde, und damit den Betrieb des Höchstspannungsnetzes in der Schweiz noch sicherer machen würde.
Steuerung – hier kommt Vertrauen vor den harten Fakten
Das Team Regional Operations, auch Steuerung genannt, regelt alle Ausserbetriebnahmen und Schaltungen am Übertragungsnetz. Steht eine Ausserbetriebnahme einer Leitung an, kommt der Auftrag dafür vier Wochen vorher hier an. Das Team erstellt dann einen Schaltauftrag, der später in der Praxis ausgeführt wird. Wenn die Ausserbetriebnahmen geplant sind, kann ein Schaltplan gut vorbereitet werden. Die Durchführung der Ausserbetriebnahme basiert stets auf gegenseitigem Vertrauen, wie mir Holger erklärt: «Die Leitungsmonteurinnen und -monteure draussen auf den Masten vertrauen uns, dass auch wirklich keine Spannung auf den Leitungen ist. Und wir müssen unseren Kolleginnen und Kollegen im Feld vertrauen, dass alle Sicherheitsmassnahmen eingehalten werden».
Doch nicht alle Ausserbetriebnahmen der Leitungen sind geplant: Bei Störungen wie Blitzeinschlägen, starken Stürmen, Waldbränden oder Lawinenabgängen muss das Team einen kühlen Kopf bewahren, da diese Ereignisse zu ungeplanten Auslösungen von Leitungen führen können.
Die Durchführung der Ausserbetriebnahmen von Leitungen basiert stets auf gegenseitigem Vertrauen zwischen der Netzleitstelle und den Arbeiterinnen und Arbeitern vor Ort.
Holger Albiez, Specialist System Operations
Was ich in dieser Nachtschicht gesehen habe, ist beeindruckend. Die Netzleitstelle bei Swissgrid ist kein Ort für Spektakel, sondern für stille Präzision. Sie sorgt dafür, dass wir morgens Licht haben, der Kühlschrank läuft und der Zug fährt – ganz selbstverständlich.
Doch hinter dieser Selbstverständlichkeit stehen Menschen, die mit höchster Konzentration und technischem Know-how dafür sorgen, dass der Strom nie Pause macht.