Das Schweizer Übertragungsnetz ist mit 41 Leitungen eng mit dem europäischen Verbundnetz verknüpft. Erst durch diese Vernetzung ist eine sichere Stromversorgung in der Schweiz möglich. Zum Beispiel, wenn Stromengpässe in den Wintermonaten überwunden werden müssen. Oder wenn mit der internationalen Zusammenarbeit Kraftwerksausfälle oder Überproduktionen kompensiert werden müssen. Umgekehrt übernimmt die Schweiz als Transitland und mit ihren Pumpspeicherkraftwerken als grosser Energiespeicher eine wichtige Rolle im europäischen Verbund.
Liberalisierung der europäischen Strommärkte
Als Teil des Verbundnetzes ist die Schweiz von Entwicklungen im europäischen Strommarkt in hohem Masse betroffen. Nach einer langen Phase der Stabilität ist die Stromwirtschaft in den letzten 20 Jahren stark in Bewegung geraten. Ausgelöst wurde der fundamentale Wandel durch den Entscheid der EU, die Strommärkte zu liberalisieren und einen effizienten sowie wettbewerbsfähigen Strombinnenmarkt zu schaffen. Dies hat eine deutlich höhere Dynamik im Stromhandel ausgelöst. Für die Übertragungsnetzbetreiber besteht die Herausforderung darin, die Kapazität für den grenzüberschreitenden Handel zu maximieren und gleichzeitig einen sicheren Netzbetrieb zu gewährleisten.
Mitwirkung durch fehlendes Stromabkommen erschwert
Swissgrid ist mit diesen veränderten Rahmenbedingungen in einer weiteren Hinsicht gefordert: Aufgrund des fehlenden Stromabkommens kann Swissgrid bei den Entwicklungen im europäischen Strommarkt nur noch beschränkt mitwirken und die Interessen des Landes einbringen.
An den gekoppelten Strommärkten, dem flussbasierten Day-Ahead-Markt und dem Intraday-Markt, kann die Schweiz nur bedingt teilnehmen. So ist die Zusammenarbeit mit den beiden Kapazitätsberechnungsregionen (Capacity Calculation Regions) CORE sowie Italy North auf privatrechtliche Verträge gestützt. Mit einem Stromabkommen wäre die Schweiz automatisch in die Kapazitätsberechnungsmethoden und die Redispatch- sowie die Sicherheitskoordinationsprozesse miteinbezogen. Für die Sicherheit des Netzbetriebs in der Schweiz wäre dies von grossem Vorteil.
Für Swissgrid ist ausserdem der Zugang zu wichtigen Regelenergiekooperationen gefährdet. Eine Mitwirkung ist derzeit noch möglich an der internationalen Kooperation für Primärregelreserven und im Netzregelverbund (International Grid Control Cooperation, IGCC), in dem die Ungleichgewichte zwischen Erzeugung und Verbrauch der verschiedenen Regionen saldiert werden. Die Teilnahme an den Plattformen wie TERRE, MARI oder PICASSO ist jedoch stark gefährdet. Der Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E und die europäische Regulierungsbehörde ACER haben bekräftigt, dass die Teilnahme der Schweiz für die Netzsicherheit in Europa unabdingbar ist.
Basis für eine europäische Zusammenarbeit in Europa erreicht
Um diese Situation zu verbessern, hat Swissgrid ihr Engagement in den europäischen Gremien deutlich intensiviert. In enger Koordination mit der Eidgenössischen Elektrizitätskommission ElCom ist es Swissgrid 2019 gelungen, eine «Schweiz-Klausel» in den neuen Grundlagenvertrag für die europäischen Übertragungsnetzbetreiber (Synchronous Area Framework Agreement, SAFA) zu erwirken. Damit ist es Swissgrid möglich, mit den Übertragungsnetzbetreibern, die in Kapazitätsberechnungsregionen CORE und Italy North zusammengeschlossen sind, Verhandlungen aufzunehmen und Verträge abzuschliessen. Diese privatrechtlichen Verträge schaffen die Grundlage, um zukünftig bei den grenzüberschreitenden Koordinationsprozessen mitzuarbeiten.
Die Herausforderungen bleiben – Clean Energy Package und Brexit
Die Europäische Union entwickelt den europäischen Strommarkt konsequent weiter. Die Implementierung des dritten Binnenmarktpakets schreitet fort, gleichzeitig wurde als viertes Binnemarktpaket das «Clean Energy Package» in Kraft gesetzt. Dies hat zur Folge, dass sich die europäischen Regeln für den Netz- und Marktbetrieb immer weiter von den entsprechenden Schweizer Regularien entfernen.
Das «Clean Energy Package» sieht die Gründung von Regional Coordination Centres vor, die zukünftig einen Teil des Netzbetriebs koordinieren werden. Swissgrid kann die Interessen der Schweiz in die Coordination Centres vermutlich nicht einbringen. Ebenso legt das Paket fest, dass die Übertragungsnetzbetreiber die für den Strommarkt zur Verfügung gestellte Grenzkapazität deutlich erhöhen müssen. Swissgrid rechnet darum zukünftig mit noch mehr ungeplanten Flüssen im Schweizer Netz, höheren Kosten für Redispatch und allenfalls Beschränkungen der für die Schweiz verfügbaren Importkapazität.
Einen grossen Einfluss auf die Frage, wie man Drittstaaten den Zugang zum europäischen Markt ermöglichen will, hat zudem der Brexit. Eine mögliche Folge könnte ein Ausschluss von Swissgrid aus der ENTSO‑E sein, dem Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber. Hierdurch würde eine Einflussnahme auf die europäischen Methoden und Prozesse zunehmend schwieriger.
Swissgrid beobachtet die Entwicklungen in Europa aufmerksam. Um die Netzsicherheit auch langfristig gewährleisten zu können, engagiert Swissgrid auf europäischer Ebene für eine enge Zusammenarbeit und technische Lösungen. Privatrechtliche Vereinbarungen unter Übertragungsnetzbetreibern stellen aber langfristig keinen adäquaten Ersatz für ein Stromabkommen dar.