Kabelstudie

Netz

Wenn die Physik der Technik Grenzen setzt

Autor: Jan Schenk


Der Neubau von Erdkabeln ist im Schweizer Übertragungsnetz nur noch in sehr beschränktem Ausmass möglich. Dies zeigt die Kabelstudie Schweiz, die Swissgrid erarbeitet hat. Grund dafür sind die physikalischen Eigenschaften von Erdkabeln, die den stabilen Netzbetrieb und das Beheben von Störungen deutlich erschweren. Eine unkontrollierte Verkabelung hat negative Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit der Schweiz. Bei künftigen Netzprojekten soll deshalb aus einer gesamtheitlichen Perspektive abgewogen werden, ob ein Erdkabel gebaut werden kann.

Freileitung oder Erdkabel? Teil- oder Vollverkabelung? Diese Fragen werden bei Leitungsprojekten im Übertragungsnetz (380 und 220 Kilovolt) häufig emotional und kontrovers diskutiert. Als innovatives Unternehmen ist Swissgrid grundsätzlich gegenüber allen Technologien offen und prüft bei jedem Projekt sowohl Freileitungs- als auch Verkabelungsvarianten. Den Technologieentscheid fällt nicht Swissgrid, sondern der Bundesrat – auf Empfehlung einer vom Bundesamt für Energie (BFE) eingesetzten Begleitgruppe. Dieser Prozess sowie die isolierte Beurteilung jedes Projekts ohne langfristige Betrachtung des Gesamtsystems hat in den vergangenen Jahren im Übertragungsnetz zu einer starken Zunahme von Verkabelungen geführt. Aktuell sind 42 Kilometer Erdkabel gebaut. Die Realisierung von weiteren 250 Kilometern ist bereits behördlich festgelegt.

Übersicht mit allen gebauten und behördlich festgelegten Erdkabelabschnitten
Übersicht mit allen gebauten und behördlich festgelegten Erdkabelabschnitten

Kabelstudie untersucht Konsequenzen der wachsenden Verkabelung

Mit der zunehmenden Verkabelung rückt die Frage ins Zentrum, welche Auswirkungen sie auf das Gesamtsystem hat – im Normalbetrieb wie im Störungsfall. Um dies zu klären und die Diskussion zur Technologiewahl zu versachlichen, hat Swissgrid eine Kabelstudie erarbeitet. Sie simuliert das Schweizer Übertragungsnetz auf Basis von Szenarien mit unterschiedlich hohem Verkabelungsgrad. Die Studie wurde durch die Firma RTEinternational validiert und mit dem Bundesamt für Energie (BFE) und der Eidg. Elektrizitätskommission (ElCom) gespiegelt. Zudem wurden die Studienresultate im Auftrag des BFE durch die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) bestätigt.

Die Kabelstudie belegt, worauf Swissgrid seit Längerem hinweist: Die Zunahme von Erdkabeln bringt im Höchstspannungsnetz (380 und 220 Kilovolt) grosse technische und betriebliche Herausforderungen mit sich, die sich negativ auf die Versorgungssicherheit der Schweiz auswirken können. Sie gründen in den spezifischen physikalischen Eigenschaften von Erdkabeln, deren Konsequenzen mit zunehmender Spannung überproportional steigen. Wer diese Phänomene verstehen will, muss tief in die Welt der Elektrotechnik eintauchen.

Spannungshaltung: Mehr Schaum, weniger Bier – und höhere Kosten

Eine konstante Spannung ist für das zuverlässige Funktionieren des Schweizer Übertragungsnetzes zentral. Für die Spannungshaltung müssen Kraftwerke mit ihren Generatoren sogenannte Blindleistung produzieren oder absorbieren. Wie Schaum, der ein Glas füllt und weniger Bier Platz lässt, reduziert Blindleistung – ohne nutzbare Arbeit zu verrichten – die sogenannte Wirkleistung einer Stromleitung.

Blindleistung und Wirkleistung
Wirkleistung und Blindleistung erklärt

Hier kommen die Erdkabel ins Spiel. Sie erzeugen mehr Blindleistung als Freileitungen. Grund dafür ist ihre kompakte Bauweise: Ihre Leiter liegen viel dichter beieinander als bei Freileitungen, und sie sind von einem dicken Isolationsmantel umhüllt. Damit erhöht sich ihre Kapazität – vereinfacht gesagt ihre Fähigkeit, elektrische Ladung aufzunehmen und zurückzugeben – und damit auch ihre Blindleistung. Dies hat Konsequenzen. Denn ist zu viel Blindleistung im Netz, drohen Schäden durch Überspannungen. Bereits heute gibt es Situationen, bei denen Kraftwerken nicht genügen Blindleistung absorbieren können, um die Spannung in allen Regionen innerhalb der zuverlässigen Limiten zu halten.

Mit zunehmender Verkabelung des Übertragungsnetzes verschärft sich diese Situation weiter. Abhilfe kann nur der Bau von sogenannten Kompensationsanlagen schaffen. Diese erhöhen aber die Komplexität des Betriebs und damit auch die Fehleranfälligkeit des Übertragungsnetzes. Sie brauchen viel Platz, verursachen Lärm – und sind teuer: Die Kabelstudie zeigt, dass die zusätzlichen Kompensationsanlagen für eine grossmehrheitliche Erdverkabelung rund 1,4 Mrd. Franken kosten würden. Diese Kosten müssten von den Stromkonsumentinnen und -konsumenten bezahlt werden.

Resonanzen: Wenn sich Schwingungen verstärken, drohen Schäden

Ein weiteres komplexes physikalisches Phänomen, welches den zuverlässigen und stabilen Betrieb von Netzen beeinflusst, sind sogenannte Resonanzen. Jede technische Infrastruktur hat eine so genannte Eigenfrequenz, mit der sie, einmal «angestossen», von selbst «schwingt». Auch elektrische Netze haben Eigenfrequenzen, sogenannte Resonanzfrequenzen. Damit es im Übertragungsnetz nicht zu Störungen kommt, müssen dessen Resonanzfrequenzen einen möglichst grossen Abstand zu jenen Frequenzen haben, die störend auf die Leitungen einwirken können. Dazu gehören die im Netz vorhandenen, sogenannten Oberschwingungen. Sie entstehen durch das Zusammenspiel vieler unterschiedlicher elektrischer nichtlinearer Verbraucher oder Leistungselektronik wie Gleichrichter, Frequenzumrichter oder Motorsteuerungen.

Netze mit 380- oder 220-Kilovolt-Erdkabeln haben aufgrund der massiven Bauweise der Erdkabel eine deutlich tiefere Resonanzfrequenz als Netze, die ausschliesslich aus Freileitungen bestehen – vergleichbar mit einer Stimmgabel, die «tiefer summt», je grösser ihre Masse ist. Dies führt zu einem wachsenden Risiko, dass sich die Resonanzfrequenz des Erdkabelnetzes und die störenden Fremdeinwirkungen gegenseitig «hochschaukeln». Ein vergleichbarer Effekt wurde 1831 der Broughton-Hängebrücke in Nordengland zum Verhängnis: Die Schrittfrequenz der Soldaten, welche die Brücke im Gleichschritt überquerten, überlagerte sich mit deren Eigenfrequenz, was Schwingungsverstärkungen auslöste und die Brücke zum Einsturz brachte.

Wiedereinschalten der Leitungen nach Blackouts gefährdet

Die tiefere Resonanzfrequenz der Erdkabelnetze ist vor allem beim Wiedereinschalten von Leitungen – zum Beispiel nach dem Beheben von Störungen oder nach geplanten Abschaltungen für Instandhaltungsarbeiten – ein Problem, weil die Schwingungsverstärkungen zu Schäden oder zu Abschaltungen führen können. Dabei fällt zusätzlich ins Gewicht, dass die Reparatur eines Erdkabels durch seine Verlegung im Boden deutlich aufwändiger und teurer ist als bei einer Freileitung. Beschädigte Erdkabel bleiben deshalb nicht selten Wochen bis Monate ausser Betrieb.

Potenziell dramatisch kann sich die zunehmende Verkabelung des Gesamtsystems bei Blackouts auswirken. Blackouts sind grossräumige Störungen der Stromversorgung durch den gleichzeitigen Ausfall mehrerer Netzelemente des Übertragungsnetzes. In diesen – glücklicherweise sehr seltenen – Fällen ist ein rascher und möglichst reibungsloser Netzwiederaufbau für die Schweiz existenziell. Zu diesem Zweck hat Swissgrid das Übertragungsnetz in vier Netzwiederaufbauzellen aufgeteilt.

Vier Regionen zum Netzwiederaufbau in der Schweiz mit schwarzstartfähigen Kraftwerken
Vier Regionen zum Netzwiederaufbau in der Schweiz mit schwarzstartfähigen Kraftwerken

Jede Zelle umfasst ein Gebiet mit sogenannten schwarzstartfähigen Kraftwerken. Diese können nach dem Blackout mit Hilfe ihrer eigenen Stromproduktion die nötige Frequenz, Spannung und Leistung aufbauen und damit umliegende Netze sukzessive wiederaufbauen. Die Kabelstudie Schweiz zeigt: Resonanzeffekte und Schwingungsverstärkungen können – je nach Länge der Erdkabel und deren Nähe zu schwarzstartfähigen Kraftwerken – die Fähigkeit einer Zelle zum Netzwiederaufbau nach einem grossflächigen Blackout behindern oder sogar komplett verunmöglichen.

Fazit: «Weiter wie bisher» gefährdet die Versorgungssicherheit

Die Kabelstudie zeigt, dass der Bau von Erdkabeln im Übertragungsnetz nur noch in sehr begrenztem Ausmass möglich ist. Sie bestätigt die grossen technischen und betrieblichen Herausforderungen einer zunehmenden Verkabelung, auf welche Swissgrid seit Längerem nachdrücklich hinweist. Diese Herausforderungen gründen in den spezifischen physikalischen Eigenschaften von Erdkabeln. Die Studie kommt zu folgenden Ergebnissen:

  1. Mehr Anlagen, höhere Komplexität und Kosten: Erdkabel erzeugen deutlich mehr Blindleistung als Freileitungen. Um schädliche Überspannungen und Netzausfälle zu vermeiden, muss diese Blindleistung mit zusätzlichen Kompensationsanlagen absorbiert werden. Kompensationsanlagen erhöhen die Komplexität des Netzbetriebs, benötigen Platz, erzeugen Lärm und verursachen hohe Kosten.
  2. Erschwerter Netzwiederaufbau nach Blackout: Erdkabel senken die Resonanzfrequenzen im Übertragungsnetz. Damit steigt das Risiko, dass nach einem Blackout aufgrund von Schwingungsverstärkungen der Netzwiederaufbau ganzer Regionen verunmöglicht wird. Zudem erhöhen die Resonanzeffekte das Risiko von Instabilitäten von Kraftwerken und des Netzbetriebs sowie an Netzkomponenten und elektrischen Geräten.
  3. Je tiefer der Kabelanteil, desto stabiler der Netzbetrieb: Aufgrund der in der Kabelstudie nachgewiesenen Phänomene muss der Anteil an Erdkabeln im Übertragungsnetz tief gehalten werden – insbesondere auf der höchsten Spannungsebene von 380 Kilovolt.

Eine unkontrollierte Verkabelung nach dem Prinzip «first come, first served» hat negative Auswirkungen auf die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit der Schweiz. Swissgrid strebt deshalb in Abstimmung mit den Behörden eine Systematik an, um bei künftigen Netzprojekten aus einer gesamtheitlichen Perspektive abwägen zu können, an welchen Stellen im Übertragungsnetz eine Erdverkabelung eine notwendige und akzeptable Umsetzungsvariante darstellt.


Effiziente Bewilligungsverfahren für den Netzausbau dank klarem Technologieentscheid

Die Kabelstudie Schweiz bestätigt das im Rahmen der Vernehmlassungsvorlage des Elektrizitätsgesetzes für den Um- und Ausbau der Stromnetze («Netzexpress») vorgeschlagene Prinzip: Im Übertragungsnetz soll der Freileitungsvorrang gelten, während Erdkabel nur geprüft werden, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Dies strafft die Verfahren, reduziert Verzögerungen und hilft, das Stromnetz schneller an die Anforderungen der Energiewende anzupassen. So bleibt das Netz sicher und stabil, ohne die Stromkonsumentinnen und Stromkonsumenten mit erheblichen Mehrkosten zu belasten.


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