Gestern ist «MARI», die neue, zentrale europäische Plattform für den Austausch von schneller Tertiärregelenergie, in Betrieb gegangen und die ersten europäischen Übertragungsnetzbetreiber haben sich mit der Plattform verbunden. Als Gründungsmitglied der Plattform hat Swissgrid alle operativen Tests erfolgreich abgeschlossen und ist bereit für die Teilnahme. Allerdings kann die Schweiz aufgrund der politischen Situation im Verhältnis Schweiz – EU und rechtlicher Meinungsverschiedenheiten bis auf Weiteres nicht an die zentrale MARI-Plattform angebunden werden. Swissgrid hat die nötige Anpassung des Schweizer Regelenergiemarktes trotzdem wie geplant umgesetzt, damit sichergestellt ist, dass die Schweiz mindestens auf technischer Ebene kompatibel ist mit den neuen europäischen Plattformen.
Mit MARI, der «Manually Activated Reserves Initiative», hat Swissgrid gemeinsam mit diversen Mitgliedern des Verbands Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENSTO-E) eine weitere Plattform für den grenzüberschreitenden Austausch von Regelenergie geschaffen. Die MARI-Plattform ermöglicht innerhalb des europäischen Strombinnenmarktes die Auktionierung, Verrechnung und Überwachung von schneller Tertiärregelenergie (Aktivierungszeit von 12,5 Minuten und Lieferzeit von 15 Minuten). Ziel ist eine effizientere Beschaffung und eine zuverlässigere Regelenergiebereitstellung zu niedrigeren Kosten. Eine aktive Teilnahme von Swissgrid an MARI würde zu einer Erhöhung der Systemsicherheit beitragen, da mehr Regelenergie zur Verfügung stünde als auf dem nationalen Markt. Ausserdem würde sie zu tieferen Kosten für Regelenergie führen. Vor allem aber würde eine aktive Teilnahme von Swissgrid und der Schweiz eine bessere Integration ins europäische Verbundnetz bedeuten.
Weitere Regelenergieplattformen
Für Swissgrid hat die Systemsicherheit in der Schweiz und damit im europäischen Verbundnetz oberste Priorität. Deshalb arbeitet Swissgrid eng mit den europäischen Partnern zusammen, um den Netzbetrieb stetig weiterzuentwickeln und zu optimieren. Im Oktober 2020 konnte mit TERRE (Trans European Replacement Reserve Exchange) eine europäische Plattform für den Austausch von langsamer Tertiärregelenergie (Aktivierungszeit von 30 Minuten und Lieferzeit bis 1 Stunde) in Betrieb genommen werden. Im Juni 2022 ging zudem PICASSO (Platform for the International Coordination of Automated Frequency Restoration and Stable System Operation) in Betrieb, die europäische Plattform für den Austausch von Sekundärregelenergie. Obwohl Swissgrid sowohl für PICASSO als auch für MARI die technischen Anforderungen erfüllt, besteht bisher aufgrund der politischen Situation im Verhältnis Schweiz – EU und rechtlicher Meinungsverschiedenheiten keine Anbindung der Schweiz an die zentralen Plattformen.
Drohender Ausschluss der Schweiz
Die Teilnahme der Schweiz an TERRE, MARI und PICASSO ist gemäss der Verordnung 2017/2195 der EU-Kommission zur Festlegung einer Leitlinie über den Systemausgleich im Elektrizitätssystem (Electricity Balancing Guideline (EB GL) nur möglich, wenn ein Stromabkommen vorhanden ist oder wenn die EU-Kommission einer Teilnahme von Swissgrid aus Gründen der Systemsicherheit zustimmt. Aus Sicht der EU-Kommission verstösst eine Teilnahme von Swissgrid jedoch gegen Art. 1.6 und 1.7 EB GL, da eine Zustimmung der EU-Kommission und die Bedingungen für einen positiven Entscheid nicht gegeben sind. Swissgrid teilt weder diese Rechtsauffassung noch die technische Einschätzung der Folgen einer Nichtteilnahme von Swissgrid. Swissgrid kann aber den Zutritt zu den Plattformen derzeit nicht erzwingen. Daher ist die Schweiz bisher nicht an PICASSO und MARI angebunden. Nichtsdestotrotz setzt sich Swissgrid weiter für die Netzstabilität in der Schweiz und Europa ein und stellt deshalb die technische Kompatibilität für den grenzüberschreitenden Austausch von Regelenergie sicher.
Was ist Regelenergie und wofür wird sie gebraucht?
Der Strombedarf kann je nach Tageszeit sehr verschieden sein. In den Netzleitstellen in Aarau und Prilly achtet Swissgrid 24/7 darauf, dass das Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch gehalten wird und Reserven bereitstehen, um Frequenzschwankungen sowie Unausgeglichenheiten der Regelzone Schweiz jederzeit auszugleichen. Diese Reserven werden als sogenannte Regelleistung vorgehalten, um das Netz bei Störungen sofort zu stabilisieren.
Mit Regelenergie bezeichnet man die Energie, die ein Netzbetreiber effektiv abruft, um unvorhergesehene Schwankungen im Stromnetz auszugleichen. Die Stromnetzfrequenz kann in beide Richtungen schwanken und destabilisiert werden: Übersteigt die Entnahme von Strom die Einspeisung, benötigt man zum Ausgleich positive Regelenergie. Das bedeutet, dass entweder schnell mehr Strom produziert und ins Netz eingespeist oder der Stromverbrauch reduziert werden muss. Beim umgekehrten Fall, zu hohes Angebot und zu geringe Stromnachfrage, greift die negative Regelenergie – der Stromverbrauch wird schnell erhöht oder die Stromproduktion muss verringert werden.
Den Übertragungsnetzbetreibern stehen drei Regelenergiequalitäten mit unterschiedlicher Aktivierungsgeschwindigkeit zur Verfügung. Primärregelenergie ist innerhalb von 30 Sekunden zur schnellen Stabilisierung des Netzes abrufbar. Kann eine Frequenzabweichung damit nicht ausgeglichen werden, aktiviert der zentrale Netzregler innerhalb von 5 Minuten die Sekundärregelenergie. Reichen Primär- und Sekundärregelenergie nicht aus, steht innerhalb einer Viertelstunde die Tertiärregelenergie zur Verfügung.