Wärmepumpen statt Ölheizungen, E-Autos statt Benziner: In der Schweiz stehen die Zeichen auf Strom. Was bedeutet das für die Betreiber der lokalen Stromnetze – der sogenannten Verteilnetze? Und wie bereiten sie sich auf die weitere Elektrifizierung vor? Fragen an zwei Spezialisten der Energie Thun AG, die das Verteilnetz der Stadt Thun betreibt.
Im Gespräch
In der Schweiz sind immer mehr Solaranlagen, Wärmepumpen und Ladestationen für E-Autos installiert. Was bedeutet das fürs Verteilnetz?
Christoph Woodtli: Am stärksten wirken sich bisher die Solaranlagen auf die Belastung des Verteilnetzes aus. Das zeigt sich etwa an der sogenannten Mittagsspitze. Bisher mussten wir für die Mittagszeit, wenn der Stromverbrauch durch das Kochen hoch ist, besonders viel Strom beschaffen. An einem Tag mit sonnigem Wetter kommt diese Bedarfsspitze nun nicht mehr vor, weil die Solaranlagen eine grosse Menge lokalen Strom produzieren. Regnet es hingegen, tritt die Mittagsspitze weiterhin auf. Die Belastung des Netzes schwankt also deutlich stärker als früher.
Ist das für Ihr Verteilnetz ein Problem?
Roland Schindler: Nein, bisher nicht. Wir haben in der Vergangenheit gut ins Verteilnetz investiert und können davon zehren. In den letzten Jahren waren nur einzelne Netzverstärkungen wegen den Solaranlagen nötig. Dies gehört für uns zum Tagesgeschäft und war problemlos zu bewältigen. Allerdings müssen wir vermehrt Anschlussleitungen zu den einzelnen Liegenschaften verstärken. Das bindet Ressourcen, die uns für andere Projekte fehlen.
In den kommenden Jahren werden zahlreiche Solaranlagen installiert. Was würde es zum Beispiel für Ihr Verteilnetz bedeuten, wenn sich die Produktion von Solarstrom langfristig verzehnfacht?
Roland Schindler: Von einer Verzehnfachung gehen wir derzeit nicht aus. Es wird aber sicher eine massive Zunahme geben. Die Grösse der Herausforderungen wird sich nach dem Volumen und der Geschwindigkeit des Zubaus richten.
Künftig wird die Belastung des Stromnetzes durch die Elektrifizierung von Wärmesektor und Mobilität weiter zunehmen. Wie bereiten Sie Ihr Netz darauf vor?
Roland Schindler: Durch die sogenannte Zielnetzplanung. Dabei schreiben wir das bestehende Stromnetz in die Zukunft fort – und zwar mit allen uns bekannten Einflussgrössen: technologischen, gesellschaftlichen, politischen und regulatorischen. Wir skizzieren also das wahrscheinlichste Szenario, wie sich der Stromverbrauch und die lokale Erzeugung weiterentwickeln werden und leiten davon das Zielnetz ab. Ein Beispiel: Wenn wir in einem Thuner Quartier das Fernwärmenetz ausbauen und das Gasnetz allmählich rückbauen, wechseln viele Hauseigentümerinnen und -eigentümer von einer Gasheizung auf Fernwärme, einige jedoch auf Wärmepumpen. Diesen zusätzlichen Strombedarf berücksichtigen wir in der Zielnetzplanung. Sie ist das wichtigste strategische und operative Werkzeug, um unser Stromnetz für die Zukunft vorzubereiten. Die neuste Zielnetzplanung betrachtet die Fokusjahre 2035 und 2050. Basierend darauf entscheiden wir, welche Schwerpunkte wir bei der Weiterentwicklung des Netzes setzen und wie wir unsere Mittel am wirkungsvollsten investieren – auch im Hinblich auf die Klimaziele unserer Eigentümerin, der Stadt Thun.
Ist die Zielnetzplanung ein neues Instrument?
Roland Schindler: Nein, wir haben sie schon mehrmals erstellt. Aber sie wird immer dynamischer. Früher machten wir die Zielnetzplanung mit einem Fokus von fünf Jahren. Inzwischen bewegen wir uns in Richtung eines jährlichen Prozesses, von dem auch gleich die Investitionsplanung fürs Folgejahr abhängt.
Um einen teuren Netzausbau zu vermeiden, brauchen wir auch die Unterstützung der Kundinnen und Kunden.
Christoph Woodtli, Energie Thun AG
Stichwort Investitionen: Wie lässt sich verhindern, dass im Verteilnetz ein teurer Ausbau nötig wird?
Roland Schindler: Bei Netzausbauten und -verstärkungen besteht die Gefahr, dass die Netzbetreiber mit einer unnötig hohen Leistung planen, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Sie rechnen etwa damit, dass alle künftigen Solaranlagen eines Quartiers ihren gesamten Strom ins Netz einspeisen. Das ist aber wenig realistisch und verteuert die Netzprojekte. Wir wählen folgenden Ansatz: nur so viel Netzverstärkung wie nötig und dann monitoren – also die Belastung des Netzes beobachten. Da ist das Verteilnetz im Vergleich zum Übertragungsnetz von Swissgrid in einer besseren Situation: Es lässt sich kurzfristiger weiterentwickeln, ohne dass die Planungs- und Genehmigungsprozesse zehn Jahre oder länger dauern.
Christoph Woodtli: Um einen teuren Netzausbau zu vermeiden, brauchen wir aber auch die Unterstützung der Kundinnen und Kunden. Im besten Fall passen sie ihren Stromkonsum immer mehr daran an, wie stark das Netz gerade belastet ist.
Wie soll das gehen?
Christoph Woodtli: Mit finanziellen Anreizen und ohne die Kundschaft zu bevormunden. Ein vielversprechendes Instrument sind dynamische Stromtarife. So können zum Beispiel die Fahrerinnen und Fahrer eines Elektroautos selbst entscheiden, ob sie dieses sofort zu einem höheren Tarif laden wollen – oder später, wenn das Netz weniger belastet und der Tarif daher tiefer ist. Die Netzbetreiber sollten den Mut haben, solche Lösungen mit einigen freiwilligen Kundinnen und Kunden auszuprobieren und Praxiserfahrung zu sammeln. Dabei hilft uns die Digitalisierung: Wenn die verschidenen Anlagen im Energiesystem immer stärker miteinander kommunizieren und sich aufeinander abstimmen, laufen Entscheidungen wie etwa zum optimierten Laden des Elektroautos automatisiert ab. Die Fahrerinnen und Fahrer brauchen sich nicht immer aktiv darum zu kümmern.
Das geht in Richtung eines Smart Grids – eines intelligenten Stromnetzes. Wie realistisch ist diese Idee aus Ihrer Sicht?
Roland Schindler: Ein Smart Grid kann uns helfen, die künftigen Herausforderungen zu meistern. Das Hochspannungs- und das Mittelspannungsnetz sind schon heute grösstenteils intelligent. Hier kommunizieren die verschiedenen Anlagen miteinander. Im Niederspannungsnetz ist das noch nicht durchgängig möglich. Dazu müsste beispielsweise jeder Hausanschlusskasten smart sein und mit den grossen Verbrauchern im Gebäude kommunizieren. Davon sind wir noch weit entfernt. Wir müssen uns gut überlegen, welche ersten Schritte in diese Richtung Sinn machen. Denn die Digitalisierung sollte nie ein Selbstzweck sein. Manchmal ist eine konventionelle Lösung schlicht günstiger und sinnvoller. Zum Beispiel wenn ein 400-Volt-Kabelleitungsersatz ohne aufwendige Tiefbauarbeiten gesamtheitlich betrachtet günstiger ausfällt als etwa ein lokaler Spannungsregler mit höheren Investitions- und Betriebskosten.
Christoph Woodtli: Das sehe ich gleich. Die oft mit dem Smart Grid verbundene Vorstellung «Intelligenz statt Kupfer» ist meiner Meinung nach der falsche Ansatz. Die Stromversorgung braucht Kupfer und Intelligenz.
Und sie erfordert mehr Speicher. Werden im Verteilnetz vor allem die Elektroautos diese Rolle übernehmen?
Christoph Woodtli: Elektroautos sind für uns nützlich als flexible Lasten. Im besten Fall können wri die Ladevorgänge bei Bedarf verschieben oder die Ladeleistung senken und so das Stromnetz entlasten. Ob und wie schnell sich hingegen das bidirektionale Laden durchsetzt, bei dem der Strom aus der Batterie zurück ins Netz fliesst, ist derzeit noch ungewiss. Einerseits sind die dafür benötigten Ladestationen heute noch sehr teuer. Andererseits muss der finanzielle Anreiz gross genug sein, damit die Besitzerinnen und Besitzer die Batterie ihres Elektroautos überhaupt als Speicher zur Verfügung stellen. So gross das Potenzial des bidirektionalen Ladens ist, so viele praktische Fragen sind noch zu klären.
Eine besonders effiziente Speicherlösung bleiben Stauseen und vor allem Pumpspeicher-Kraftwerke.
Roland Schindler, Energie Thun AG
Welche anderen Speichertechnologien fürs Verteilnetz sehen Sie?
Christoph Woodtli: Schon seit Längerem besteht die Idee der Quartierspeicher. Diese könnten durch den Mantelerlass – das neue Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien – Aufwind erhalten. Denn das Gesetz sieht lokale Elektrizitätsgemeinschaften vor, sogenannte LEGs. Dabei können sich Stromkonsumierende eines ganzen Quartiers, Produzenten von erneuerbarem Strom und Speicherbetreiber zusammenschliessen, um sich untereinander frei mit Strom zu versorgen. Quartierspeicher werden dabei finanziell interessant, weil für den damit gespeicherten und wieder abgegeben Strom keine Netznutzungsgebühr anfällt.
Roland Schindler: Eine besonders effiziente Speicherlösung bleiben Stauseen und vor allem Pumpsicher-Kraftwerke. Auch wenn die Stromversorgung immer dezentraler funktioniert. Solche zentrale Speicher sind wegen ihrer Grösse und ihres hohen Wirkungsgrads weiterhin sehr sinnvoll.
Gibt es in Thun schon konkrete Projekte für Quartierspeicher – etwa von Wohnbaugenossenschaften oder von Ihrem Unternehmen?
Christoph Woodtli: Nein, zurzeit sind mir keine solchen Projekte bekannt. Durch die Veränderungen aus dem Mantelerlass werden sie aber sicher entstehen.
Von den neuen Herausforderungen bei der Stromversorgung sind alle Netzebenen betroffen. Wie stimmen Sie sich mit dem Betreiber des vorgelagerten Netzes ab – in Ihrem Fall mit der BKW?
Roland Schindler: Wir haben mit der BKW seit jeher vertraglich vereinbart, mit welcher maximalen Leistung wir im Normalbetrieb Strom aus dem vorgelagerten Netz beziehen können. Nun bin ich gespannt auf die Auswertung unserer neusten Zielnetzplanung mit dem Fokus bis 2050. Sie wird zeigen, ob wir diese Leistung wegen der zusätzlichen Lasten im Netz künftig anpassen müssen. Davon gehe ich aber nicht aus: In den nächsten rund 20 Jahren wird die Leistung voraussichtlich ausreichen.
In einigen Jahren ist es denkbar, dass beispielsweise an einem sonnigen Sonntagmittag die Rückspeisung von Solarstrom grösser ist als die heutige Verbrauchsspitze. Haben Sie bereits Massnahmen ergriffen, um die Solaranlagen bei Bedarf abregeln zu können?
Roland Schindler: Mit der Beantwortung des technischen Anschlussgesuches (TAG) werden künftig produzentenseitig die nötigen Vorkehrungen für eine Standardansteuerung verlangt. Auf der Netzseite stehen uns heute die konventionelle Rundsteueranlage und das Smart-Meter-System zur Verfügung. Aber um die Rückspeisung künftig flexibel und dynamisch zu beeinflussen, benötigt es innovativere Systeme und Applikationen.
Wegen der wachsenden Komplexität in der Energiebranche bieten wir zwar immer weniger 08/15-Jobs an, dafür aber umso mehr äusserst interessante Expertenjobs.
Roland Schindler, Energie Thun AG
Welche Rolle spielt der Fachkräftemangel bei der Weiterentwicklung der Verteilnetze?
Roland Schindler: Hier spielen zwei Aspekte eine Rolle: Erstens müssen genügend Fachkräfte wie Netzelektriker und Elektroinstallateure ausgebildet werden. Derzeit beobachte ich allerdings, dass mehr Fachkräfte pensioniert werden als nachrücken. Zweitens verändern sich die Jobprofile. Netzelektriker zum Beispiel müssen immer mehr auch IT-Zusammenhänge verstehen und technische Applikationen betreuen. Sie benötigen ein vernetztes Denken über die Abteilungsgrenze hinaus. Für das Stromnetz der Zukunft ist also nich nur die Zahl der Fachkräfte entscheidend, sondern genauso deren breites, laufend aktualisiertes Fachwissen. Wegen der wachsenden Komplexität in der Energiebranche bieten wir zwar immer weniger 08/15-Jobs an, dafür aber umso mehr äusserst interessante Expertenjobs.