Das Stromnetz muss für die erfolgreiche Umsetzung der Energiestrategie 2050 modernisiert und bedarfsgerecht ausgebaut werden. Das steht fest. Doch die Netzprojekte dauern oft länger als geplant. Warum ist das so? Mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz ist ein wesentlicher Grund dafür. Neben möglichen Gesundheitsrisiken und Lärm ist der Einfluss auf die Landschaft gemäss der Schweizer Bevölkerung das Hauptproblem von Höchstspannungsleitungen. Deshalb untersuchte das von Swissgrid unterstützte Forschungsprojekt «Energyscape» an der ETH Zürich und der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL den Einfluss von Energieanlagen auf die Wahrnehmung von Schweizer Landschaften. Im Interview erklärt Dr. Ulrike Wissen Hayek, Leiterin des Forschungsprojekts, den Projektverlauf und zu welchen überraschenden Erkenntnissen das Projektteam gelangt ist.

Was haben Sie im Projekt «Energyscape» genau untersucht?
Auf Basis des heutigen Forschungsstands wissen wir, dass die Wahrnehmung der Landschaftsveränderung die gesellschaftliche Akzeptanz massgeblich beeinflusst. Im Projekt «Energyscape» haben wir uns deshalb auf die Frage fokussiert, wie sich die Wahrnehmung und Beurteilung der Landschaften durch das Hinzufügen von Anlagen erneuerbarer Energien und Höchstspannungsleitungen verändert.

Wie haben Sie die Wahrnehmung von Landschaftsveränderungen gemessen?
Wir haben eine schweizweit repräsentative Online-Befragung durchgeführt. Die Teilnehmenden sahen jeweils zwei mögliche Landschaften mit erneuerbaren Energien und Höchstspannungsleitungen. Dabei mussten sie sich für das Landschaftsbild entscheiden, welches ihnen besser gefiel. Wir haben sieben verschiedene für die Schweiz charakteristische Landschaften für die Studie verwendet. Mit einem Laserscanner (RIEGL VZ-1000) wurden für die Landschaften repräsentative Standorte aufgenommen und anschliessend dreidimensional visualisiert. In der Landschaftsszene sahen die Teilnehmenden der Studie jeweils keine, wenige, mittel oder viele Windkraft- und Photovoltaikanlagen. Weiter sahen sie die Landschaft entweder ohne oder mit Höchstspannungsleitung.

1/7: Siedlungsgeprägtes Flachland mit vielen Wind- und Photovoltaikanlagen | © ETHZ
2/7: Landwirtschaftlich geprägtes Flachland mit wenigen Wind- und Photovoltaikanlagen | © ETHZ
3/7: Jura mit Höchstspannungsleitungen, wenig Windkraftwerken und mittlerer Anzahl an Photovoltaikanlagen | © ETHZ
4/7: Voralpen mit Höchstspannungsleitungen und wenigen Windturbinen | © ETHZ
5/7: Siedlungsgeprägte Berggebiete mit vielen Photovoltaikanlagen | © ETHZ
6/7: Touristisch geprägte Berggebiete mit Höchstspannungsleitungen und mittlerer Anzahl Photovoltaikanlagen | © ETHZ
7/7: Naturnahe Berggebiete mit Höchstspannungsleitungen und mittlerer Anzahl Wind- und wenig Photovoltaikanlagen | © ETHZ

Wir haben ein Laborexperiment durchgeführt, um die Wahrnehmung solcher Landschaften vertieft zu untersuchen. Dabei haben wir die unbewussten Reaktionen auf visuelle Veränderungen von Landschaften durch erneuerbare Energiesysteme gemessen. Visuelle Reize lösen physiologische Reaktionen aus, also Reaktion auf spezifische Prozessregionen im Gehirn. Diese physiologischen Reaktionen lassen sich zum Beispiel über die Hautleitfähigkeit messen. Die Unterschiede in der Hautleitfähigkeit geben an, wie stark sich die Erregung oder Aufmerksamkeit einer Person beim Betrachten der Landschaftsszenarien verändert. Zudem haben wir die Wahrnehmung der Landschaftsstruktur bewerten lassen.

Wie wurden die Landschaftsveränderungen wahrgenommen?
Was überrascht ist, dass die Bevölkerung eine Landschaft mit wenigen Photovoltaikanlagen auf Dächern und Fassaden gegenüber einer Landschaft ohne Photovoltaikanlagen bevorzugt. Auch wenige Windkraftanlagen verschlechtern die Bewertung nur geringfügig. Erst bei vielen Photovoltaikanlagen, auch auf Freiflächen, oder bei mittel bis vielen Windkraftwerken sinkt die Bewertung der Landschaft rapide. Höchstspannungsleitungen verschlechtern die Bewertung der Landschaft hingegen immer.

1/8: Ergebnisse Online Studie: Beurteilung ohne Wind- und Photovoltaikanlagen und ohne Höchstspannungsleitung | © ETHZ
2/8: Ergebnisse Online Studie: Beurteilung ohne Wind-, mit wenig Photovoltaikanlagen und ohne Höchstspannungsleitung | © ETHZ
3/8: Ergebnisse Online Studie: Beurteilung wenigen Wind- und Photovoltaikanlagen und ohne Höchstspannungsleitung | © ETHZ
4/8: Ergebnisse Online Studie: Beurteilung mit vielen Wind- und Photovoltaikanlagen und ohne Höchstspannungsleitung | © ETHZ
5/8: Ergebnisse Online Studie: Beurteilung mit vielen Wind- und Photovoltaikanlagen und mit Höchstspannungsleitung | © ETHZ
6/8: Ergebnisse Online Studie: Beurteilung ohne Wind- und Photovoltaikanlagen und mit Höchstspannungsleitung | © ETHZ
7/8: Ergebnisse Online Studie: Beurteilung ohne Wind-, mit wenigen Photovoltaikanlagen und mit Höchstspannungsleitung | © ETHZ
8/8: Ergebnisse Online Studie: Beurteilung mit wenigen Wind- und Photovoltaikanlagen und mit Höchstspannungsleitung | © ETHZ

Die Studie zeigt auch, dass die Landschaft mit nur Höchstspannungsleitungen eine deutlich schlechtere Bewertung erhielt als die Landschaft mit Höchstspannungsleitung und wenig bis mittlerer Anzahl Photovoltaikanlagen. Füge ich in der Landschaft mit wenig bis mittlerer Anzahl Photovoltaikanlagen noch wenige Windkraftwerke hinzu, verschlechtert sich die Wahrnehmung auch nicht wesentlich. Erst mit mehr Anlagen ändert sich das Bild.

Der Landschaftstyp spielt eine wesentliche Rolle. Im siedlungsgeprägten Flachland und in den touristisch geprägten Berggebieten werden erneuerbare Energieinfrastrukturen positiver bewertet als in anderen Landschaftstypen. In heute infrastrukturfreien Berggebieten ist die Wahrnehmung deutlich negativer als in anderen Landschaftstypen. In diesen naturnahen Berggebieten wirkt die Landschaft weniger harmonisch, wenn Energieinfrastrukturen ergänzt werden.

Haben Sie detailliertere Analysen gemacht, was Höchstspannungsleitungen betrifft?
Wir haben im Rahmen einer Masterarbeit mithilfe einer Eye-Tracking-Studie die Akzeptanz von Höchstspannungsleitungen in Abhängigkeit des Landschaftstyps und von Windkraftwerken genauer untersucht. In siedlungsgeprägten Gebieten (Berge und Flachland) war die Akzeptanz von Höchstspannungsleitungen höher als in naturnahen Gebieten (Jura und Voralpen). Einen Zusammenhang zwischen Windkraftwerken und Höchstspannungsleitungen konnten wir nicht feststellen. Die Störung einer Höchstspannungsleitung ist also unabhängig von der Anzahl Windkraftwerke.

1/4: Eye Tracking Studie Fixationsdauer: Affektive Wahrnehmung der Landschaft mit Windkraftwerken und Höchstspannungsleitung
Bild: Kilian Müller, 2018
2/4: Eye Tracking Studie Fixationsdauer: Gelenkte Wahrnehmung der Landschaft mit Windkraftwerken und Höchstspannungsleitung
Bild: Kilian Müller, 2018
3/4: Eye Tracking Studie Fixationsdauer: Affektive Wahrnehmung der Landschaft ohne Windkraftwerke und mit Höchstspannungsleitung
Bild: Kilian Müller, 2018
4/4: Eye Tracking Studie Fixationsdauer: Gelenkte Wahrnehmung der Landschaft ohne Windkraftwerke und mit Höchstspannungsleitung
Bild: Kilian Müller, 2018

Der Landschaftstyp ist also sehr relevant. Haben Sie diesen Einfluss des Landschaftstyps auf die Wahrnehmung von Energieinfrastrukturen genauer untersucht?
Das Laborexperiment liefert hier sehr interessante Resultate. Über die Messung der Hautleitfähigkeit konnten wir zeigen, dass die Menge der erneuerbaren Energien die physiologische Reaktion beeinflusst. Viele Anlagen lösen speziell im Jura und im infrastrukturfreien Berggebiet eine viel höhere physiologische Reaktion aus, wohingegen sich die Wahrnehmung bei dem siedlungsgeprägten Flachland mit oder ohne erneuerbare Energieinfrastrukturen kaum unterscheidet. Die wahrgenommene Stimmigkeit der Landschaft nimmt bei wenigen Energieanlagen bei allen Landschaftstypen ausser den infrastrukturfreien Berggebieten zu, wohingegen bei vielen Energieinfrastrukturen bei allen Landschaftstypen die Stimmigkeit sinkt.

Laborexperiment

Die Ergebnisse von «Energyscape» lassen sich so zusammenfassen: Kombinationen von Wind- und Solarenergieanlagen in einer Landschaft werden positiver bewertet als nur Windkraftwerke. Freileitungen kombiniert mit Solarenergieanlagen – und allenfalls wenigen Windenergieanlagen – werden positiver bewertet als oder gleich bewertet wie nur Freileitungen. Der Landschaftstyp spielt bei der Akzeptanz eine wichtige Rolle.


Erkenntnisse für die Praxis

«Energyscape» zeigt für Swissgrid ganz klar einen Zielkonflikt auf, der zwischen der landschaftlichen Akzeptanz und der Akzeptanz durch Direktbetroffene entsteht. Aus landschaftlicher Sicht bevorzugt die Bevölkerung eine Höchstspannungsleitung im siedlungsgeprägten Flachland. Dort ist aber die Akzeptanz der Direktbetroffenen geringer, denn diese wollen eine Leitung nicht in der Nähe der Siedlungsgebiete haben. Deshalb weichen neue Leitungen aufs Land aus, wo die landschaftliche Akzeptanz zwar geringer ist, aber nur einzelne Wohnhäuser sprich Bauernhöfe vorkommen. Dort treffen die Leitungen jedoch auch auf Landschafts- und Naturschutzgebiete, auf die wiederum Rücksicht genommen werden muss. In einem weiteren Projekt zusammen mit der ETH Zürich, das 3D Decision Support System zur Unterstützung der Planung von Höchstspannungsleitungen, gehen wir der Frage nach, wo eine neue Leitung durchführen soll. Genau solche Zielkonflikte werden dabei berücksichtigt. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts sind Inhalt eines folgenden Blogbeitrags.



Gastautorin

Dr. Ulrike Wissen Hayek

Projektleiterin Forschungsprojekt «Energyscape»
Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung, ETH Zürich

Autor

Joshu Jullier
Joshu Jullier

Communication Manager


  • | Blog

    Wahr oder fake? Der grosse Mythen-Check zum Stromnetz geht in die zweite Runde

    Blogbeitrag lesen
  • | Blog

    Das Stromnetz fit machen für die Energiewende

    Blogbeitrag lesen
  • | Blog

    «Ihr seid unverzichtbar»

    Blogbeitrag lesen

Kontakt

Anrede

Bitte wählen Sie die Anrede aus.

Bitte geben Sie Ihren Vornamen an.

Bitte geben Sie Ihren Nachnamen an.

Bitte geben Sie eine gültige E-Mail Adresse ein.

Geben Sie bitte Ihre Nachricht ein.

Klicken Sie bitte die Checkbox an.