Technische Verträge und ihre Grenzen

Warum «technische Abkommen» keine Alternative zum Stromabkommen sind

Autorin: Jacqueline Kalberer


Die Schweiz und die Europäische Union (EU) verhandeln im Rahmen der Bilateralen III aktuell wieder über ein Stromabkommen. Ziel der Schweiz ist es, die gleichberechtigte Teilnahme der Schweizer Akteure am europäischen Strombinnenmarkt zu gewährleisten. Des Weiteren soll Swissgrid als Übertragungsnetzbetreiberin der Schweiz gleichwertig in die europäischen Prozesse zum Betrieb des Übertragungsnetzes eingebunden werden. Ausserdem soll das Stromabkommen die Kooperation von Schweizer Behörden und Institutionen mit ihren Pendants auf europäischer Ebene im Strombereich absichern. Die Verhandlungen wurden im März 2024 gestartet mit dem Ziel, sie voraussichtlich bis Ende Jahr abzuschliessen.

Zwar werden die Verhandlungen mit der EU mehrheitlich befürwortet, jedoch gibt es auch kritische Stimmen. Für den Fall, dass das Stromabkommen nicht zustande kommt, werden auf politischer Ebene und in den Medien bereits jetzt mögliche Alternativen gesucht. In diesem Zusammenhang wurde mehrfach angeregt, dass die Beziehung zur EU im Strombereich auch über technische Verträge geregelt werden könnte. Als Beispiel wird dabei der Vertrag von Swissgrid mit den Übertragungsnetzbetreibern der Region «Italy North» angeführt, welcher den Einbezug der Schweiz in die Kapazitätsberechnungs- und Sicherheitskoordinationsprozesse dieser Region regelt. Bezogen auf die Netzstabilität, die Versorgungssicherheit der Schweiz, die Rechtssicherheit und die Mitgestaltungsmöglichkeiten Schweizer Akteure sind technische Verträge jedoch keine echte Alternative. Sie weisen gegenüber einem Stromabkommen deutliche Nachteile auf.

Stromabkommen vs. Technische Verträge: Der grundlegende Unterschied

Das Stromabkommen stellt einen völkerrechtlichen Vertrag auf zwischenstaatlicher Ebene dar. Gemäss dem definitiven Verhandlungsmandat der Schweiz findet es in den Bereichen Produktion, Übertragung, Verteilung, Handel, Speicherung und Versorgung von und mit Strom Anwendung. Schliessen die Schweiz und die EU ein Stromabkommen ab, definieren sie darin gemeinsam, welche Gesetze und Regularien im Hinblick auf eine Teilnahme der Schweiz am Strombinnenmarkt der EU für die beiden Vertragsparteien gelten und wie mit zukünftigen Gesetzesänderungen umzugehen ist. Auch die institutionellen Regeln, die im Falle von Streitigkeiten zum Tragen kämen, vereinbaren die Schweiz und die EU gemeinsam.

Statt eines umfassenden Stromabkommens könnte die Schweiz versuchen, ein auf technische Belange beschränktes Abkommen auf zwischenstaatlicher Ebene mit der EU abzuschliessen. Dieses würde im Gegensatz zu Ersterem nur den Einbezug von Swissgrid in die europäischen Prozesse zum Betrieb des Übertragungsnetzes beinhalten. Der Zugang der Schweizer Akteure zum europäischen Strombinnenmarkt sowie die weiteren Aspekte wären darin nicht enthalten. Die EU hat allerdings deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht bereit ist, ohne Klärung der institutionellen Fragen und der anderen Verhandlungsthemen über ein Abkommen zu rein technischen Aspekten des Stromhandels auf zwischenstaatlicher Ebene zu verhandeln.

Als weitere Möglichkeit zur Sicherung der Netzstabilität werden technische Verträge zwischen Swissgrid und den benachbarten Übertragungsnetzbetreibern genannt. Zur Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrags, das Übertragungsnetz in der Schweiz sicher zu betreiben, muss Swissgrid die international geltenden technischen und betrieblichen Anforderungen an den Netzbetrieb einhalten. Zu diesem Zweck schliesst das Unternehmen auf privatrechtlicher Basis entsprechende Verträge mit den Übertragungsnetzbetreibern der EU ab. Ein Beispiel dafür ist der Vertrag von Swissgrid mit den Übertragungsnetzbetreibern der Region «Italy North» an der Schweizer Südgrenze. Dabei handelt es sich um Verträge zwischen Unternehmen. Diese Verträge werden auf Basis des geltenden EU-Rechts abgeschlossen. Das EU-Recht in diesem Bereich ist aber zunehmend öffentliches Recht, welches anderslautende privatrechtliche Vereinbarungen wie die genannten Verträge übersteuert. Zudem haben diese Verträge eine beschränkte Laufzeit und müssen jährlich erneuert werden. Für den Vertragsabschluss ist die Zustimmung aller Übertragungsnetzbetreiber und Regulatoren der beteiligten Länder notwendig. Die Verlängerung eines Vertrags ist dabei immer risikobehaftet, weil die Vertragsparteien und vor allem deren Regulierungsbehörden aufgrund divergierender Interessen oder sachfremder Argumente eine Verlängerung ablehnen können.

Langfristig bietet also nur das Stromabkommen mit der EU die nötige Rechtssicherheit.

Sicherheit schafft nur das Stromabkommen.

Inhaltliche Grenzen von technischen Verträgen

Im Rahmen privatrechtlicher Verträge darf und muss Swissgrid einzelne technische Aspekte bezogen auf ihren gesetzlichen Auftrag – den sicheren Betrieb des Übertragungsnetzes in der Schweiz – mit den Übertragungsnetzbetreibern der Nachbarländer klären. Beispielsweise definiert der Vertrag mit den Übertragungsnetzbetreibern der Region «Italy North» unter anderem, wie die Schweiz in die Berechnung der Grenzkapazitäten an den Schweizer Südgrenzen eingebunden wird. Der Vertrag stellt während der Vertragsdauer sicher, dass die Schweiz in den entsprechenden Prozessen berücksichtigt wird und er legt fest, welche Methode dabei angewendet wird. Dadurch werden die ungeplanten Stromflüsse im Schweizer Stromnetz reduziert und die Netzstabilität verbessert.

Damit sind jedoch längst nicht alle Herausforderungen im Betrieb des Übertragungsnetzes gelöst. Zum Beispiel entstehen ungeplante Stromflüsse nicht nur, wenn die Schweiz ungenügend in die Grenzkapazitätsberechnung ihrer Nachbarländer einbezogen ist. Auch der zunehmend internationale Austausch von Regelenergie kann zu ungeplanten Stromflüssen im Schweizer Netz führen und die Netzstabilität gefährden. Aktuell versucht Swissgrid, ihre Teilnahme an den europäischen Regelenergieplattformen vor europäischen Gerichten mit dem Hinweis auf Systemsicherheitsrisiken für die Schweiz und die Region zu erkämpfen. Hätte Swissgrid Zugang zu diesen Plattformen, würde das Risiko ungeplanter Stromflüsse weiter reduziert und Swissgrid könnte zur Behebung von Unausgeglichenheiten im Stromnetz auf den europäischen Regelenergiemarkt anstatt auf Schweizer Regelenergie zurückzugreifen, die sonst für die Stromversorgung in der Schweiz fehlt. Mit dem Stromabkommen kann die Teilnahme von Swissgrid an den europäischen Regelenergieplattformen rechtlich abgesichert werden, weil nur damit sämtliche Aspekte des Netzbetriebs und des Stromhandels in kohärenter Weise geregelt werden können.

Und nicht zuletzt gewährleisten privatrechtliche Verträge keine Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Schweizer Akteure der Strombranche in europäischen Fachgremien. In diesen werden die Regulierungen für den Netzbetrieb und den Stromhandel vorbereitet. Nur mit dem Stromabkommen können Schweizer Akteure Einfluss nehmen auf die Weiterentwicklung des europäischen Stromsystems, von dem die Schweiz integraler Bestandteil ist.

Privatrechtliche Verträge sind wie schlecht klebende «Pflästerli» auf einem immer löchriger werdenden Sieb.

Die Schweiz braucht das Stromabkommen

Solange die Schweiz und die EU kein Stromabkommen haben, sind privatrechtliche Verträge ein Mittel für Swissgrid, in ihrem Verantwortungsbereich stehende, technische Aspekte des Netzbetriebs mit den benachbarten Übertragungsnetzbetreibern für einen beschränkten Zeitraum zu regeln. Dadurch kann das Unternehmen die Netzstabilität in begrenztem Masse verbessern. Die Herausforderungen im Netzbetrieb nehmen jedoch durch die Transformation des Energiesystems und die stetige Weiterentwicklung des europäischen Stromsystems laufend zu. Daher sind privatrechtliche Verträge wie schlecht klebende «Pflästerli» auf einem immer löchriger werdenden Sieb. Nur das Stromabkommen wird die Schweiz bezüglich sicherem Netzbetrieb als Voraussetzung für eine sichere Stromversorgung dauerhaft in trockene Tücher bringen.


«Technische Abkommen»

Die Verträge, die Swissgrid mit anderen Übertragungsnetzbetreibern zur Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrags über Aspekte des Netzbetriebs abschliesst, werden in der politischen Diskussion und in den Medien teilweise als «technische Abkommen» bezeichnet. Der Begriff «Abkommen» ist in diesem Zusammenhang allerdings irreführend, da er juristisch eine zwischenstaatliche, völkerrechtliche Vereinbarung bezeichnet. Swissgrid ist nicht befugt, zwischenstaatliche Vereinbarungen mit der EU für die Schweiz abzuschliessen. Die nationale Netzgesellschaft kann nur privatrechtliche Verträge mit anderen Unternehmen abschliessen.



Autorin

Jacqueline Kalberer
Jacqueline Kalberer

Communication Manager


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