Seit der Bundesrat im Dezember 2023 den Entwurf eines Verhandlungsmandats verabschiedet hatte, wird das Thema Stromabkommen fast täglich in den Schweizer Medien diskutiert. Swissgrid ist vom fehlenden Stromabkommen direkt betroffen. Für uns ist klar: Ein Stromabkommen mit der EU ist dringend und zwingend. Damit die Schweizer Endverbraucher jederzeit genügend Strom haben, braucht es ausreichend Strom und einen sicheren Transport von den Schweizer Kraftwerken und aus dem Ausland (Importe) bis zur Steckdose. Das Stromabkommen stärkt beide Aspekte der Versorgungssicherheit.
Zusammenarbeit und Mitsprache sind das A und O
Das Wichtigste vorweg: Das Schweizer Stromnetz befindet sich im Herzen Europas und ist mit 41 Grenzleitungen integraler Bestandteil des kontinentaleuropäischen Verbundnetzes. Es ist somit nicht möglich, «unser» Netz isoliert zu betrachten. Die Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn ist entscheidend – insbesondere im Netzbetrieb. Diese gute Zusammenarbeit ist aufgrund des fehlenden Stromabkommens immer stärker gefährdet. Denn Technik ist das eine, Politik das andere.
Für die Stabilität des Verbundnetzes ist es essenziell, dass sich alle an die gleichen Spielregeln halten. Es gibt keine spezifischen Schweizer Regeln. Ein Stromabkommen ermöglicht Swissgrid eine volle Beteiligung an der Ausarbeitung dieser Regeln und die Verteidigung der Schweizer Interessen. Eine gute Zusammenarbeit und Mitsprache sind also das A und O.
Was sind ungeplante Stromflüsse und wieso sind sie ein Problem für die Schweiz?
Aufgrund des fehlenden Stromabkommens ist die Schweiz von wichtigen europäischen Plattformen und Prozessen ausgeschlossen. Das ist dem Strom aber ziemlich egal. Er kennt keine politischen Grenzen und sucht sich immer den Weg des geringsten Widerstands. Wenn Strom an einem Ort erzeugt wird, um einen Endverbraucher an einem anderen Ort zu versorgen, wird er hauptsächlich über jene Stromleitungen zwischen den beiden Orten fliessen, die den kürzesten Weg darstellen. Ist der Weg jedoch «verstopft» oder bestehen Engpässe, nimmt er einen Umweg, um die Blockade zu umgehen. Dabei kann es vorkommen, dass Strom unvorhergesehen über Landesgrenzen fliesst. Über die europäischen Plattformen und Prozesse werden alle Teilnehmer über die geplanten Stromflüsse informiert. So können sie allfällige «Blockaden» und «Umleitungen» frühzeitig erkennen und bei Bedarf vorausschauende Massnahmen ergreifen. Da die Schweiz davon ausgeschlossen ist, wird sie hingegen immer häufiger überrascht und muss im Echtzeitbetrieb reagieren. Das ist ein Risiko für den sicheren Netzbetrieb.
Solche «ungeplanten Flüsse» sind somit primär ein technisches bzw. infrastrukturelles Problem. Die Einführung der flussbasierten Marktkopplung in allen Nachbarländern der Schweiz sowie die Umsetzung des «Clean Energy Package» und der 70-Prozent-Regel führen aufgrund der starken Vernetzung der Schweiz mit dem benachbarten Ausland voraussichtlich zu einer Zunahme der bereits heute erheblichen ungeplanten Flüsse durch die Schweiz. Diese Stromflüsse «verstopfen» unsere grenzüberschreitenden Leitungen und führen so zu einer potenziellen Verringerung der Importfähigkeit der Schweiz. Der fehlende Einbezug in die europäischen Koordinationsprozesse wirkt sich also negativ auf den Netzbetrieb und die Versorgungssicherheit aus.
Darum sind Regelenergieplattformen so wichtig
Eine wichtige Voraussetzung für den sicheren Betrieb des Übertragungsnetzes ist das Gleichgewicht von Stromproduktion und -verbrauch. Zu jeder Sekunde muss gleich viel Energie ins Netz eingespiesen werden, wie verbraucht wird, damit die Frequenz immer 50 Hertz beträgt. Bei unvorhergesehenen Schwankungen setzt Swissgrid Regelenergie ein: Sie beauftragt Kraftwerke, ihre Produktion zu erhöhen oder zu senken. Diese Regelenergie muss Swissgrid auf dem Markt beschaffen. In der EU wurde mit drei neuen Plattformen ein gesamteuropäischer Markt für diese sogenannten Systemdienstleistungen geschaffen. Diese Plattformen ermöglichen den Übertragungsnetzbetreibern, das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage von elektrischer Energie aufrecht zu erhalten und Regelenergie effizienter, zuverlässiger und kostengünstiger zu beschaffen. Mit einem Stromabkommen wird die gleichberechtigte Teilnahme von Swissgrid an diesen europäischen Marktplattformen für den sicheren Betrieb des Übertragungsnetzes abgesichert.
Und dann ist da noch die Sache mit der Rechtssicherheit
Auch die Rechtssicherheit wird mit einem Stromabkommen verbessert. Swissgrid versucht, mit privatrechtlichen Verträgen eine technische Zusammenarbeit mit benachbarten Übertragungsnetzbetreibern sicherstellen. Diese Verträge sind in ihrer Laufzeit jedoch beschränkt, müssen jährlich erneuert werden, haben keine belastbare EU-Rechtsgrundlage und können durch neues EU-Recht übersteuert werden.
Da der Betrieb des Übertragungsnetzes innerhalb der EU vermehrt in supranationalen Regionen koordiniert wird, kann Swissgrid keine bilateralen Verträge mit einzelnen Übertragungsnetzbetreibern abschliessen. Vielmehr müssen jeweils alle Übertragungsnetzbetreiber und Regulatoren einer Region dem Vertrag zustimmen und diesen unterzeichnen. Ein Vertragsabschluss bzw. eine Vertragserneuerung wird entsprechend von vielen unterschiedlichen Interessen beeinflusst und kann aus sachfremden Gründen abgelehnt werden. Das Stromabkommen schafft hier Sicherheit, indem es einerseits die ökonomischen und politischen Aspekte regelt, die im privatrechtlichen Verhältnis nicht abgebildet werden könnten und indem andererseits eine dauerhafte Kooperation auf zwischenstaatlicher Ebene festgeschrieben wird, die nicht einseitig abgeändert werden kann.
Inwiefern könnte das Stromabkommen auch Aspekte der Cyber-Sicherheit regeln?
Das Stromabkommen kann verschiedene Aspekte der Zusammenarbeit im Strombereich regeln. Neben den technischen Kooperationen bietet es die Möglichkeit, auch die Cyber-Sicherheitsthemen zu regeln. Das ist wichtig, denn wir wollen ja nicht, dass unser Stromnetz von Hackern als Spielplatz benutzt wird.
Momentan sind die sogenannten Network Codes die Stars der Show, wenn es um die Zusammenarbeit der europäischen Übertragungsnetzbetreiber geht. Sie bilden die rechtliche Grundlage. Besonders der Network Code für Cyber-Sicherheit sorgt dafür, dass unsere europäischen Nachbarn und wir uns alle an dieselben Regeln halten, wenn es um den Schutz vor Cyber-Angriffen geht. Die Regeln legen fest, wie Cyber-Risiken zu bewerten sind, welche Mindeststandards gelten und wie im Notfall reagiert werden soll.
Sicherheit und damit auch Cyber-Sicherheit stehen bei Swissgrid an oberster Stelle. Schliesslich sind wir eine kritische Infrastruktur. Insbesondere der Umgang mit den europäischen Regeln im Bereich Cyber-Sicherheit sollte daher im Rahmen des Stromabkommens definiert werden, da diese direkte Auswirkungen auf den Netzbetrieb haben.
Links
Medienmitteilung: Verhandlungen über ein Stromabkommen mit der EU können beginnen
Blogartikel: Ungeplantes im Stromnetz – ein Risiko für die Schweiz
Blogartikel: Die 70%-Regel und die Schweiz
Information zu den Regelleistungsmärkten
Blog VSE: «Das Stromabkommen: Zentral für die Netzstabilität in der Schweiz»