Netz

Wahr oder fake? Der grosse Mythen-Check zum Stromnetz

Siebter Beitrag der Blog-Serie «Unser Netz» zur strategischen Netzplanung bei Swissgrid

Autorin: Sandra Bläuer


Das Stromnetz geht alle an und ist zugleich ein komplexes Thema – der perfekte Nährboden für verschiedenste Mythen. Doch welche Behauptungen stimmen? Höchste Zeit für einen Mythen-Check, der mit Halbwahrheiten und Irrtümern aufräumt. Experte Marc Vogel kennt die Fakten und überprüft 12 weitverbreitete Mythen auf ihre Richtigkeit.


Im Gespräch

Mythos 1: Strom lässt sich im Netz speichern.

Leider nein, das Netz kann keinen Strom speichern. Es dient einzig dem Transport des Stroms. Zu jedem Zeitpunkt muss genau so viel Strom ins Netz eingespeist werden, wie ihm an anderen Orten entnommen wird. Denn es gilt: Energieverbrauch und -produktion müssen stets im Gleichgewicht sein. Darum kümmert sich Swissgrid rund um die Uhr.

Energieverbrauch und -produktion müssen stets im Gleichgewicht sein. Darum kümmert sich Swissgrid rund um die Uhr.

Marc Vogel

Mythos 2: Strom kann im Netz jederzeit frei fliessen.

Die Leitungen im Höchstspannungsnetz sind die Autobahnen der Stromverteilung. Wie es auf den Strassen Staus gibt, können auch im Stromnetz Engpässe auftreten. Das kann beispielsweise vorkommen, wenn zu wenig Transportkapazitäten bei hoher Kraftwerksproduktion vorhanden sind. Aber auch lokale Schwankungen, also eine hohe Produktion oder Nachfrage, können zu Netzengpässen führen. Solche Engpässe sorgen künftig zum Beispiel dafür, dass nicht alle E-Autos gleichzeitig laden und die Solaranlagen im Sommer zeitweise nicht ihren gesamten Strom ins Netz einspeisen können. Um Engpässe zu beherrschen, braucht es Massnahmen wie zum Beispiel dynamische Stromtarife. Sie setzen Anreize, den Strom dann zu verbrauchen oder zu speichern, wenn er lokal erzeugt wird. Lademanagement für Elektrofahrzeuge ist notwendig, damit jedes Auto zum gewünschten Zeitpunkt bedarfsgerecht geladen ist, ohne dass dabei das Netz überlastet wird.

Mythos 3: Bei einer Strommangellage kommt es zum Blackout.

Das ist nicht der Fall, denn ein Blackout und eine Mangellage sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ein Blackout erfolgt unvermittelt und ungeplant, beispielsweise in Folge eines technischen Fehlers. Ein Blackout ist ein grossräumiger Stromausfall der weitreichende Folgen für die Gesellschaft hat, wenn er länger andauert. Eine Strommangellage hingegen bedeutet die Knappheit an elektrischer Energie: Sie tritt nicht überraschend auf und dauert in der Regel länger als ein Blackout. Eine Strommangellage führt zu keinem plötzlichen Versorgungsunterbruch, sondern lässt sich rechtzeitig durch Gegenmassnahmen entschärfen. Dazu gehören unter anderem Stromsparmassnahmen, das Begrenzen des Stromverbrauchs oder, als einschneidendste Massnahme, geplante kurzzeitige Stromabschaltungen.

Weitere Informationen: Blog «Strommangellage vs. Blackout»

Ein Blackout und eine Mangellage sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.

Marc Vogel

Mythos 4: Leistung ist das Gleiche wie Energie.

Energie und Leistung sind zwar verwandte, aber unterschiedliche Grössen. Leistung wird in Kilowatt gemessen, Energie hingegen in Kilowattstunden. Über Stromleitungen wird Energie transportiert. Möchte man wissen, wie viel Energie (Kilowattstunden) über eine Leitung geflossen ist, so misst man die Leistung (Kilowatt) in jeder Sekunde und summiert die Messwerte über eine Stunde auf. Stromleitungen sind für eine maximale Leistung ausgelegt, die in der Praxis aus Gründen der Betriebssicherheit nur selten auftritt. Über eine Höchstspannungsleitung kann typischerweise die Leistung eines grossen alpinen Pumpspeicherkraftwerks von bis zu 1 GW fliessen.

Mythos 5: Mit dem Höchstspannungsnetz und dem Hochspannungsnetz ist dasselbe Stromnetz gemeint.

Falsch, dies sind zwei Netze, die mit verschiedenen Spannungen betrieben werden und unterschiedlichen Unternehmen gehören. Im Höchstspannungsnetz werden grosse Strommengen über weite Strecken von den grossen Kraftwerken und aus dem Ausland in die verschiedenen Regionen der Schweiz transportiert. Dieses Stromnetz mit 380 beziehungsweise 220 Kilovolt Spannung wird von der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid betrieben und auch für den Stromtransit zwischen den Ländern genutzt. Das Hochspannungsnetz hingegen dient dem regionalen Stromtransport und hat eine Spannung von 36 bis 150 Kilovolt. Für seinen Betrieb sind die regionalen Verteilnetzbetreiber verantwortlich.

Netzebenen
Netzebenen

Weitere Informationen: Netzebenen

Mythos 6: Unterirdische Stromleitungen sind besser für die Gesundheit der Menschen als Freileitungen.

Geht es um Stromleitungen oder elektrische Geräte, wird oft über elektromagnetische Strahlung und deren mögliche Risiken für die Gesundheit diskutiert. Sowohl oberirdische Freileitungen als auch unterirdische Erdkabel erzeugen elektrische und magnetische Felder. Bei unterirdischen Leitungen ist dies der Bevölkerung weniger bewusst, weil sie im Gegensatz zu Freileitungen nicht zu sehen sind und das Erdreich als Schutzschicht gegen die elektromagnetische Strahlung wahrgenommen wird. Doch das magnetische Feld direkt über einem Erdkabel ist wegen der geringeren Distanz sogar grösser als unter einer Freileitung. Dafür weisen Erdkabel eine geringere Ausdehnung des Magnetfelds auf. Denn durch die Anordnung der Kabel kompensieren sich deren Felder teilweise. Der Anlagengrenzwert von Erdkabeln wird bei einem seitlichen Abstand zwischen sechs und acht Metern eingehalten. Bei einer Freileitung braucht es dazu 60 bis 80 Meter.

Räumliche Ausdehnung des magnetischen Feldes

Räumliche Ausdehnung des magnetischen Feldes: Bei der Freileitung wird der 1 Mikrotesla-Grenzwert bei ca. 60 – 80 Meter Abstand von den Leiterseilen eingehalten.
1/2: Bei der Freileitung wird der 1 Mikrotesla-Grenzwert bei ca. 60 – 80 Meter Abstand von den Leiterseilen eingehalten.
Bei der Erdkabelleitung wird der 1 Mikrotesla Grenzwert bereits bei ca. 6 – 8 Metern erreicht.
2/2: Bei der Erdkabelleitung wird der 1 Mikrotesla Grenzwert bereits bei ca. 6 – 8 Metern erreicht.

Weitere Informationen: Emissionen

Das magnetische Feld direkt über einem Erdkabel ist wegen der geringeren Distanz sogar grösser als unter einer Freileitung.

Marc Vogel

Mythos 7: Strom kann gezielt über einzelne Leitungen von A nach B geleitet werden.

Wenn der Strom von Punkt A zu Punkt B fliesst, gelangt er nicht zwangsweise auf direktem Weg dorthin, sondern teilt sich auf die verschiedenen Leitungen die A und B verbinden auf. Das ist unter anderem für den grenzüberschreitenden Handel relevant: Unter Umständen fliesst nur ein Teil des gehandelten Stroms direkt über die Landesgrenze – und ein anderer Teil über das Netz eines benachbarten, am Handel unbeteiligten Landes. Ein Beispiel: Deutschland liefert Strom an Frankreich. Der Strom fliesst aber nur teilweise direkt über die deutsch-französische Landesgrenze und zu einem anderen Teil via Schweiz von Deutschland nach Frankreich. Solche ungeplanten Flüsse führen zu einer Grundbelastung des Stromnetzes unbeteiligter Länder, in unserem Beispiel der Schweiz, was deren Import- und Exportmöglichkeiten reduzieren kann.

Weitere Informationen: Blog «Ungeplantes im Stromnetz – ein Risiko für die Schweiz»

Mythos 8: Das Schweizer Übertragungsnetz funktioniert unabhängig von den Nachbarländern.

Das stimmt nicht. Denn das Übertragungsnetz der Schweiz ist ein Teil des europäischen Übertragungsnetzes, das von Portugal bis Lettland und von Dänemark bis Griechenland reicht. Es funktioniert wie eine einzige grosse Maschine, die mit gleichen Spielregeln von allen europäischen Netzbetreibern gemeinsam betrieben wird. Swissgrid hat als Koordinatorin für Südeuropa zusammen mit dem deutschen Übertragungsnetzbetreiber Amprion, der für Nordeuropa zuständig ist, eine wichtige Aufgabe für den sicheren Netzbetrieb in ganz Europa. Damit das Netz auch zukünftig sicher und effizient betrieben werden kann, braucht es ein Stromabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Ohne Stromabkommen steigen die volkswirtschaftlichen Kosten und die Netzstabilität sowie die Versorgungssicherheit sind gefährdet. Ein Stromabkommen ist somit nicht nur im Interesse von Swissgrid, sondern auch im Interesse aller Schweizer Endverbraucherinnen und -verbraucher.

Weitere Informationen: Europäischer Strombinnenmarkt

Damit das Netz auch zukünftig sicher und effizient betrieben werden kann, braucht es ein Stromabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.

Marc Vogel

Mythos 9: Das Übertragungsnetz verliert an Bedeutung, da immer mehr erneuerbarer Strom lokal erzeugt wird und lediglich übers Verteilnetz transportiert werden muss.

Der Ausbau von Solaranlagen und Windparks beansprucht tatsächlich zuerst die Verteilnetze mit niedriger Spannung. Doch gerade bei grossen Anlagen wie alpinen Solaranlagen und grossen Windparks vor den Küsten Europas, wie sie die EU plant, braucht es für den Transport des Stroms auch das inländische und das grenzüberschreitende Übertragungsnetz. Hinzu kommt: In Zeiten mit geringer lokaler Stromproduktion durch Solar- und Windenergieanlagen muss Strom von weiter entfernten Kraftwerken oder Speichern zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern transportiert werden. Auch deshalb bleibt das Übertragungsnetz unverändert wichtig.

Weitere Informationen: Blog «Bei Solaranlagen immer auch ans Stromnetz denken»

Mythos 10: Bei Bedarf lassen sich rasch neue Übertragungsleitungen bauen oder bestehende verstärken.

Das wäre wünschenswert, entspricht aber nicht der Realität. Derzeit dauern solche Projekte vom Projektstart bis zur Inbetriebnahme einer neuen Leitung rund 15 Jahre. Einsprachen und Gerichtsurteile führen allerdings immer wieder dazu, dass sich Projekte deutlich verzögern – und bis zu 30 Jahre dauern. Diese Zeitdauer soll in Zukunft möglichst gesenkt werden, damit die Entwicklung des Stromnetzes mit dem Wandel des Energiesystems sowie mit den Anforderungen der Netzbetreiber und -nutzer Schritt halten kann. Nur so kann der Strom vom Erzeugungsort zu den Verbraucherzentren abgeführt und die Stromversorgung auch zukünftig sichergestellt werden.

Weitere Informationen: Bewilligungsverfahren

Mythos 11: Wenn viel mehr Elektroautos in Betrieb sind, bricht das Stromnetz zusammen.

Um Lastspitzen beim gleichzeitigen Laden vieler E-Autos zu vermeiden, muss ein cleveres Lademanagement implementiert werden. Smart gesteuert, haben Elektroautos sogar das Potenzial, das Stromnetz zu entlasten, indem sie als Speicher dienen. Dazu braucht es an den Arbeitsplätzen konventionelle Ladestationen und zu Hause bidirektionale Ladestationen. So können die Elektrofahrzeuge tagsüber geladen und in der Nacht entladen werden. Vehicle to Grid und bidirektionales Laden ist aktuell in Europa noch teuer und es bestehen regulatorische Hürden.

Mythos 12: Jede Tarifanpassung beim Übertragungsnetz wirkt sich stark auf die Stromkosten der Haushalte aus.

Der Stromtarif für Haushalte setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. So bezahlen die Konsumentinnen und Konsumenten nicht nur für den gelieferten Strom, sondern unter anderem auch für dessen Transport. Swissgrid verantwortet als nationale Netzgesellschaft einen Teil des Wegs des Stroms. Mit den Tarifen für das Übertragungsnetz finanziert Swissgrid den sicheren und stabilen Betrieb sowie den Ausbau und die Modernisierung des Übertragungsnetzes. Diese Komponente macht nur rund sieben Prozent der jährlichen Stromkosten eines Haushaltskunden aus. Daher hat eine Tariferhöhung oder -senkung von Swissgrid nur eine geringe Relevanz für den einzelnen Stromverbraucher. Aktuell verrechnet Swissgrid im Auftrag des Bundes die mit der Stromreserve verbundenen Kosten. Die Stromreserve ist eine Versicherung gegen eine Strommangellage im Winter. Für das Rückhalten von Wasser in den Speicherseen und für die Vorhaltung von Gas-Reservekraftwerken entstehen Kosten, welche ca. vier Prozent der jährlichen Stromkosten ausmachen.

Weitere Informationen: Alles rund um den Strompreis

Mit den Tarifen für das Übertragungsnetz finanziert Swissgrid den sicheren und stabilen Betrieb sowie den Ausbau und die Modernisierung des Übertragungsnetzes.

Marc Vogel

Autorin

Sandra Bläuer
Sandra Bläuer

Communication Manager


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